Tagungsbericht zum 25. Archivwissenschaftlichen Kolloquium

Nutzung 3.0 – Zwischen Hermeneutik und Technologie? 8./9. Juni 2021

Das 25. Archivwissenschaftliche Kolloquium der Archivschule Marburg war 2020 Corona zum Opfer gefallen. Deshalb freute sich Irmgard Becker besonders, nun mehr als 250 Teilnehmer im Online-Format begrüßen zu können. Die lebhaften Diskussionen, auch im Chat und auf Twitter, zeigten, dass die Archivcommunity in digitalen Formaten angekommen ist.

Den Anfang machte Michael Cysouw vom Deutschen Sprachatlas in Marburg. In seinem Eröffnungsvortrag „Kontrollverlust oder kreatives Chaos?“, der bewusst von außen auf die Archive blickte, plädierte er dafür, nicht zu viel Energie in die Organisation der Darstellung von Daten zu stecken. Das Tempo des technologischen Wandels werde nicht nachlassen und komplexe Lösungen zur Darstellung und zum Retrieval von Daten seien vermutlich auch in Zukunft bald überholt. Dazu zählte Cysouw Metadaten ebenso wie Normdaten und formulierte „Normdaten sind die Metadaten der anderen“. Wichtiger sei dagegen, die Datenablage als „Fundament der Nutzung“ richtig zu organisieren. Cysouw plädierte dafür, den Schwerpunkt eher auf ein solides und einfaches Datenfundament und weniger auf Präsentation und Erschließung zu legen. Der Vortrag mündete in der Forderung, die Daten freizulassen und auch in großen Mengen (bulk-downloads) zur Nutzung freizugeben. Damit hatte Cysouw das erste Thema des Kolloquiums gesetzt. Auf Twitter wurde kommentiert: Daten sind wie Kinder, gebt ihnen Wurzeln und lasst sie frei.

Die Diskussion war lebhaft. Schutzfristen, Datenschutz, Persönlichkeitsrechte und Lizenzprobleme wurden ebenso angeführt wie die Sorge, nicht mehr als datenliefernde Stelle sichtbar zu sein.

In der ersten Sektion folgten Berichte über Anforderungen der Nutzer an Archive. Moritz Müller (Uni Halle) stellte eineOberbürgermeister Dr. Thomas Spies begrüsste die Teilnehmer. sozialgeschichtliche Auswertung von Daten (Kartei Leipziger Familien) vor, die aus einem crowdsourcing-Projekt des Staatsarchivs Leipzig mit dem Verein für Computergenealogie stammten. Das Staatsarchiv Leipzig hatte die Daten für die Auswertung durch Müller freigegeben – genau die Forderung von Cysouw. Müllers Auswertung zeigte eindrucksvoll, wie aussagekräftig solche Auswertungen sein können und kam dabei ganz ohne Namen aus, womit alle juristischen Regeln gewahrt wurden. Einen anderen Ansatz verfolgte der nächste Vortrag. Max Plassmann (Historisches Archiv der Stadt Köln) berichtete von den Erfahrungen, die man in Köln mit Nutzungen im Rahmen des digitalen Lesesaals gemacht hat. Er verwies auf den hohen Anteil „einfacher“ Fragen etwa zu stadthistorischen Daten im Arbeitsalltag eines Stadtarchivs und warnte davor, sich allein an Forderungen aus den universitären Elfenbeintürmen zu orientieren. Er wünschte sich mündige Nutzer, die in der Lage sind, mit den neuen Angeboten umzugehen. Damit war ein weiteres Thema des Kolloquiums aufgemacht: die Heterogenität der Nutzer bzw. der Nutzungsinteressen. Der nächste Vortrag kehrte wieder an die Universität zurück: Andreas Kuczera (Technische Hochschule Mittelhessen) zeigte mit vielen Beispielen, wie Daten mit Hilfe von Graph-Datenbanken vernetzt und visualisiert werden können. Das ist eine Technik, die auch in der Archivwissenschaft hilfreich sein kann, z.B. bei der Rekonstruktion von Ordnungsstrukturen innerhalb von Beständen.

Die zweite Sektion widmete sich den „Voraussetzungen für die Nutzung 3.0“ – es ging um Erschließungsnormen und -standards. Silke Jagodzinski (Geheimes Preußisches Staatsarchiv) und Kerstin Arnold (Stiftung Archivportal Europa) stellten konzeptionelle Grundgedanken und technische Organisation des neuen Standards Records in Contexts (RiC) und der zugehörigen Ontologie RiC-O vor. Standardisierung ist Voraussetzung für Vernetzung in der digitalen Welt; weiteres zentrales Anliegen von RiC ist es, Archivdaten maschinenlesbar zu machen und damit zu einem Teil des semantic web. Hier sind gemeinsame Lösungen mit anderen Gedächtnisinstitutionen gefragt. Der Vortrag von Frau Arnold machte deutlich, dass sich hier Vieles noch im Projektstadium befindet. Die zahlreichen Nachfragen zu technischen Details zeigten den hohen Informationsbedarf unter den Archivaren. Im Chat wurde die Frage gestellt, ob RiC auch darauf ziele, die „Grenze zwischen archivischer Erschließung von Schriftgut und geschichtswissenschaftlicher Aufschließung von Quellen aufzulösen“ (Holger Berwinkel). Silke Jagodzinski antwortete mit Ja und gab damit dem Tagungsthema einen neuen Dreh: Technologie als Hermeneutik.

Dr. Karsten Uhde bei der Moderation der 4. Sektion.​Im letzten Beitrag dieser Sektion warfen Kai Naumann und Andreas Neuburger einen Blick in die (nahe) Zukunft: Alles (zumindest alle Erschließungsdaten) ist digital. Was kommt dann? Welche fachlichen und technischen Anforderungen stellt die zunehmende Vernetzung der Daten? Der Vortrag zeigte in beeindruckender Weise Arbeitsstand und Strategien des Landesarchivs Baden-Württemberg in verschiedenen Bereichen. Einer davon: der Umgang mit Forschungsdaten wurde in der Diskussion zum dritten Thema des Kolloquiums. Dabei geht es wieder um Daten aus der Wissenschaft (Recherchedatenbanken aus universitären Großprojekten), für deren Speicherung und Zugänglichmachung mit Forschungsdatenzentren eine nationale Infrastruktur aufgebaut wird. Haben wir überhaupt Zugriff auf Forschungsdaten? Kai Naumann zeigte sich skeptisch, ob es den Archiven gelingen wird, ihre Kompetenz als finale Datenrepositorien zu realisieren. Zugleich sah er hier eine Grundsatzfrage der Rolle der Archive in der digitalen Welt: Wollen wir den Bereich der Geschichtsdaten verlassen und als Gedächtnisinstitution für alle Bereiche der Wissenschaft fungieren?

Die dritte Sektion drehte sich um bereits bestehende Angebote der Archive. Maria Magdalena Rückert und Thomas Fricke stellten den digitize on demand-Service des Landesarchivs Baden-Württemberg vor. Im Herbst 2019 gestartet, erlebte das Angebot einen Boom, als die Lesesäle wegen Corona geschlossen werden mussten. Interessant die Beobachtung, dass fast alle Nutzer vollständige Akten digitalisieren lassen. Im Vortrag von Heike Simon (Bundesarchiv) stand dann wieder die Forschungsdatenproblematik im Vordergrund. Sie zeigte, dass die Nutzung von Verwaltungsdaten durch die Forschung bei der Archivierung bedacht und einbezogen werden muss.

Günter Mühlberger (Universität Innsbruck) berichtete über Methode und Stand der automatisierten Handschriftenerkennung (transkribus/read-Projekt). Denkt man hier 20 Jahre zurück, sind die Fortschritte enorm. Der Einsatz künstlicher Intelligenz legt eine alte Schranke bei der Archivnutzung: das Handschriften-Leseproblem wesentlich tiefer.

Wie man transkribus nutzen kann, demonstrierte in der vierten Sektion Dirk Alvermann (Universitätsarchiv Greifswald). Weitere „Demonstrationen“ in dieser Sektion zeigten, was Archive bzw. Gedächtnisinstitutionen auf den Gebieten Erschließung und Nutzerpartizipation in der digitalen Welt bereits leisten. So zeigte Franziska Schubert anhand des Onlinearchivs der Arolsen Archives Nutzen, aber auch Grenzen der Erschließung durch Nutzer, und Stefan Aumann vom Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde stellte Vorteile und Probleme bei Einbindung und Nutzung von Normdatensätzen vor. Gerhard Müller, Staatsbibliothek zu Berlin, stellte vor, wie durch die Modellierung von Knowledge-Graphen der Kontext von Archivbeständen und historische soziale Beziehungen besser darstellbar und damit für Forschung nutzbar werden kann und welche Vorteile diese Darstellungsform im Vergleich zu bisherigen Darstellungsformen bieten.

Die Schlussdiskussion brachte die verschiedenen Themen nochmals zusammen. Veit Scheller berichtete aus dem Archiv des ZDF über wissenschaftliche Projekte, die auf die im Archiv mit erheblichem Aufwand vorgenommene Erschließung von Fernsehbeiträgen lieber verzichten, um ihre eigene Erschließung vorzunehmen. Ein Beispiel für eine bulk-Nutzung im Sinne des Eröffnungsvortrags. Regina Keyler (Universitätsarchiv Tübingen) kam dann wieder auf das Nutzerthema zurück. Die meisten Nutzer zielten eben nicht auf wissenschaftliche Auswertungen, sondern wollten schlicht eine Auskunft oder Information. Andreas Hedwig (Hessisches Landesarchiv) dagegen weigerte sich, bei den Nutzern Differenzierungen vorzunehmen – letztlich wisse niemand, was ein „mündiger Nutzer“ eigentlich sei. Spürbar war die Bereitschaft der Archivarinnen und Archivare, über die Qualität der Benutzerbetreuung nachzudenken und auch neue Informationsmedien zu nutzen. Die Diskussion machte jedenfalls deutlich, wie heterogen nicht nur die Nutzer sind, sondern auch die Voraussetzungen in den Archiven selbst.

Die von Kai Nauman angerissene Frage, wie die Archive sich in das Forschungsdatenmanagement einbringen, wurde noch einmal aufgegriffen. Es ist sicherlich wichtig, dass die Archive diese Diskussion und die Projekte im Auge behalten und sich ggf. über ihre Gremien (KLA; BKK) in die Diskussion einbringen und falls erforderlich auch die Anbietung von Forschungsdaten einfordern.

Die Beiträge des Kolloquiums werden in der Veröffentlichungsreihe der Archivschule publiziert.

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