Von „Vielen Händen“ und digitalen Archiven – Bericht über die Exkursion des 58. WL in die Niederlande

Eine Gruppe Menschen steht auf einer Wiese vor einem Gebäude

Zu Beginn des neuen Trimesters reisten wir, der 58. Wissenschaftliche Lehrgang, unter der Leitung von Herrn Uhde in die Niederlande. Im Nachbarland konnten wir verschiedene Archive besuchen, engagierte Mitarbeiter kennenlernen und mit ihnen diskutieren.

Mit dem Bus steuerten wir am Montag das architektonisch eindrucksvolle Gelders Archief in Arnheim an. Gestalterisch soll es an eine Schatztruhe erinnern – und tatsächlich: Im energieeffizientesten Archivbau der Niederlande befinden sich 38 laufende Kilometer an analoger und mehr als 145 Terabyte an elektronischer Überlieferung. Für uns besonders aufregend war das Selbstverständnis des Hauses: Das Gelders Archief beschreibt sich als regionales Informationszentrum, in dem die Staats-, Stadt- und Gemeindearchive der Region gebündelt werden. Es bietet die Möglichkeit einer Digitalisierung on demand, bei der jeder Nutzer pro Woche kostenfrei bis zu 10 Archivalien digitalisieren lassen kann, die innerhalb von 10 Tagen bereitgestellt und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden. Die Zugänglichmachung wird zudem durch ein genealogisches Crowdsourcing-Projekt verbessert.

Am zweiten Tag der Exkursion stand ein in vielerlei Hinsicht ungewöhnlicher Programmpunkt auf dem Plan: der Besuch des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag. Sein Archiv wurde 2015 eingerichtet, unterliegt hauseigenen Rechtsvorschriften und ist überwiegend digital ausgerichtet, wobei auch physische Beweismaterialien nachträglich digitalisiert werden. Die große Menge an Ton- und Bildmaterial verursacht allerdings hohe Speicherkosten. Ein weiteres Problem ist die Mehrsprachigkeit vieler Dokumente, die zusätzliche Ressourcen bindet. Arbeitssprachen sind Englisch und Französisch, dazu kommen noch die Amtssprachen Arabisch, Chinesisch, Russisch und Spanisch.

Eine Gruppe Menschen steht um ein Schild vor einem Gebäude

Im Gegensatz zum Verwaltungsschriftgut gelten Dokumente, die im direkten Zusammenhang mit den Gerichtsprozessen entstanden sind, grundsätzlich als archivwürdig. Aufgrund der spezifischen rechtlichen Rahmenbedingungen und der Vertraulichkeit der Dokumente existieren keine Schutzfristen. Eine Herausgabe von Akten erfolgt nur mit Erlaubnis der entsprechenden Körperschaft, was die wissenschaftliche Nutzung stark einschränkt. Am Nachmittag verließen wir Den Haag in Richtung Hilversum.

Das audiovisuelle Medienarchiv Beeld en Geluid faszinierte optisch durch seine Glasfassaden. Die 1919 gegründete Institution setzt sich aus Archiv und Museum zusammen und ist seit 1947 auf die Übernahme audiovisueller Medien spezialisiert. Durch staatliche Fördermittel und einen großen Mitarbeiterstab von ca. 300 Angestellten konnte nicht nur die umfassende Überlieferung staatlichen und privaten Film- und TV-Materials gesichert werden, sondern das Archiv ist auch auf den Sektoren Radio, Print, Websites und Computerspiele bestens aufgestellt.

Es ist eine Art Puppe zu sehen

Auch im digitalen Sektor ist das Archiv gut aufgestellt. Seit 2006 erfolgt der Ingest des Materials vollautomatisiert. Das gesamte Material wird vollständig transferiert. Sinkende Speicherkosten in Kombination mit steigenden Personalkosten sind das Argument für diese Vorgehensweise. Die Digitalisierung von Filmen, die auch on demand erfolgen kann, erfordert allerdings nicht wenige Ressourcen: Für eine Stunde Filmscan werden bis zu 90.000 Dateien vom Hochleistungsscanner Scanity produziert – Material, das aufgrund der schieren Menge mit nur einer Gegenprüfung auskommen muss. Das moderne Museum bot Einblicke in die interaktive Medienwelt und lud an verschiedenen Stationen zum Mitmachen ein. Der einzige Wermutstropfen des Besuches: Rudi Carrell hat seinen Platz noch nicht an der Wall of Fame der gläsernen Mediengalerie gefunden.

Der nächste Tag führte in die Landeshauptstadt. Das Stadtarchiv Amsterdam befindet sich in der Amsterdamer Innenstadt in einem ehemaligen Bankgebäude aus den 1920er Jahren. Lesesaal, Büros, Ausstellungs- und Magazinräume verteilen sich auf insgesamt sieben Stockwerke; ein Teil der Bestände ist in einem Außenmagazin untergebracht.

Es sind Regale in einem fensterlosen Raum zu sehen

Das Stadtarchiv Amsterdam versteht sich als Vorreiter der Digitalisierung, worunter auch citizen science-Projekte fallen. Auf Basis einer „Trial and Error“-Strategie werden Digitalisate mit Transkribus transkribiert, mit ChatGPT strukturiert und nutzbar gemacht. Gleichzeitig bindet das Archiv Ehrenamtliche aktiv in seine Arbeit ein. Die Teilnehmenden erfassen beispielsweise Orts- und Personennamen in Notariatsakten. Interessierte werden unter anderem über die Crowdsourcing-Plattform „Vele Handen“ erreicht, durch die sich registrierte Nutzer an verschiedenen Projekten beteiligen können.

Der Donnerstag führte uns ein weiteres Mal nach Amsterdam. Das Archiv der Frauenbewegung Atria wurde im Jahr 1935 von drei Frauenrechtlerinnen als International Archives for the Women’s Movement (IAV) gegründet. Den ersten Kernbestand bildete die private Büchersammlung von Rosa Manus mit 300 Büchern über oder von der Frauenbewegung, die von den Nationalsozialisten geraubt und erst 1992 größtenteils wieder zurückgeführt wurden. Über die Jahre wurden die Sammlungen und Nachlässe mit Materialien aus der zweiten Welle der Frauenbewegung, mit Interviews und mit den Beständen aus Institutionen, Vereinen und anderen Zusammenschlüssen ergänzt. Aktuell fokussiert sich das Archiv auf die Digitalisierung und damit auf die Zugänglichkeit seiner Bestände.

Es ist ein Plakat zu sehen

Organisatorisch gliedert sich das Archiv in drei Bereiche: die Archiv- und Sammlungsabteilung, einen Forschungsbereich und die Vermittlungs- und Öffentlichkeitsarbeit. Neben den hauptamtlichen Beschäftigten greift Atria auf zahlreiche Ehrenamtliche zurück – wie beispielsweise bei gemeinsamen Wiki-Freitagen, an denen bewusst frauengeschichtliche Themen für Wikipedia verfasst werden.

Noch am selben Tag ging es weiter zum Stadsarchief Rotterdam. Äußerst lebhaft stellten die Kollegen ihr Haus und ihre Bestände vor. Das Archiv ist in einem ehemaligen Parkhaus untergebracht, eine Zweitverwendung, die ungeahnte Segen birgt: So sind die klimatischen Bedingungen in den Magazinen auf Grund der guten Isolierung sehr stabil. Zudem sind die Böden und Decken naturgemäß für schwere und viele Lasten ausgelegt. So ist das Stadsarchief in der Lage, Teile seiner 42 laufenden Kilometer Magazinraum auch an kleinere Einrichtungen zu vermieten. An die Vorstellung des Hauses schloss sich eine Führung durch das Magazin und die beeindruckenden Restaurierungs- und Digitalisierungswerkstätten an. Letztere ist mit vier Mitarbeitern – davon zwei professionelle Fotografen – auch personell gut ausgestattet.

Es sind zwei Frauen und eine große Maschine zu sehen

Zum Abschluss der Exkursion wurden die Referendare im Archiv für soziale Bewegungen (AFAS) in Duisburg empfangen. Als privates, nicht-staatliches Archiv unterscheidet es sich deutlich von den Ausbildungshäusern, aber auch von den Perspektiven, die üblicherweise an der Archivschule Marburg vertreten werden.

In einem großen Lagerraum lesen mehrere Personen in Zeitschriften

Das AFAS finanziert sich weitgehend aus Projektgeldern und ehrenamtlichem Engagement seiner vier Mitarbeiter. Auch außerhalb ihrer Arbeitszeit betreiben diese Akquise und Öffentlichkeitsarbeit und pflegen den Kontakt mit den jeweiligen Bewegungen. Denn die Überlieferung der bundesrepublikanischen Linken könne nur durch das persönliche Vertrauen, die Begegnung, das Gespräch ergänzt und ausgebaut werden.

Die Exkursion bot einen guten Einblick in die niederländische Archivlandschaft, ihre fortschrittliche Digitalisierung, ihre Projekte, aber auch in die Herausforderungen. Im AFAS durften wir viel über die kräftezehrende, aber auch erfüllende Tätigkeit in einem nichtstaatlichen Archiv erfahren. Vielen Dank an die Mitarbeitenden aller Institutionen für den herzlichen Empfang und die vielen spannenden Eindrücke!

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