„Ich freue mich an den hochgiebelig, Erker geschmückten Fachwerkhäusern, die mir zum ersten Male einen reinen Begriff von dem gaben, was Goethe das Anmutig-Beschränkte des bürgerlichen Zustandes nennt." Mit dieser Bemerkung Werner Bergengruens über die Stadt Marburg, von der man nicht recht weiß, ob sie als Kompliment gemeint ist, soll dieser Bericht beginnen. Keineswegs anmutig-beschränkt, sondern voller Tatendrang machten wir, der 56. Wissenschaftliche Lehrgang der Archivschule Marburg, uns unter der kundigen Leitung von Prof. Dr. Henne an unseren rechtshistorischen Rundgang. Eigentlich hatten wir uns auf eine regnerische Expedition vorbereitet – dass dann letztlich doch die Sonne unseren Streifzug durch Marburg begleitete, war ein gutes Omen, unter dem unser Kurs die Altstadt Marburgs durchstreifte. Und wer von uns vielleicht zuvor noch gedacht hatte, die Marburger Altstadt, das sei doch lediglich jenes friedlich-postkartenreife Fachwerk-Ensemble, das sich an das festungsartige Schloss der Landgrafen von Hessen schmiegt, der wurde eines Besseren belehrt.
Wir entdeckten eine hinter Fachwerkgebieln und schmucken Erkern verborgene Stadt, einen bedeutenden Ort der Kriminalitäts- und Rechtsgeschichte. Mithilfe der vielfältigen spannenden Referate, die wir in Kleingruppen vorbereitet hatten, durchliefen wir ein Marburg, dessen Geschichte und Geschichten vor unseren Augen lebendig wurden: Die Stadt, in welcher der Rechtshistoriker Carl Friedrich von Savigny studierte, promovierte, lehrte und damit begann, die Historische Rechtsschule zu begründen. Das Marburg, in welchem die Brüder Grimm Vorlesungen hörten, zunächst weniger am Sammeln von Märchen als an der Privatbibliothek des oben genannten Savigny interessiert.
Dem Marburg-Kenner sind jedoch nicht nur diese bedeutenden Gelehrten bekannt, sondern auch die Tatsache, dass Rechtsgeschichte hier auch auf ganz andere, viel erschreckendere Weise geschrieben wurde, etwa durch die Hinrichtung des Schuhmachers Ludwig Hilberg, der vorletzten öffentlichen Exekution in Deutschland, im Jahr 1864. Er wurde in den Hexenturm verbracht und auf dem Rabenstein mit dem Schwert hingerichtet – nicht durch Rädern, wie es die damals im kurhessischen Marburg gültige Constitutio Criminalis Carolina aus dem 16. Jahrhundert eigentlich vorsah. Diese letzte öffentliche Hinrichtung eines verurteilen Verbrechers in Marburg erhitzte die Gemüter und wurde zum Politikum. Noch heute ist der Fall vor allem im Ortsteil Ockershausen, aus dem Hilbergs Opfer Dorothea Wiegand stammte, unvergessen.
Unvergessen, das ist ein gutes Stichwort: Das ist nämlich noch manch anderes in dieser geschichtsträchtigen Stadt, etwa das Marburger Religionsgespräch, welches zwischen den Reformatoren Luther und Zwingli im Jahr 1529 stattfand und bei dem man sich nicht auf die korrekte Interpretation der Eucharistie einigen konnte. Die nach diesem Disput benannte Zwingli-Treppe hat der Schweizer vielleicht nie selbst betreten – wir aber durchmaßen sie und gelangten so zum Lutherischen Kirchhof, wo seit vorigem Jahr ein Mahnmal für die Opfer der Hexenverfolgungen zu bestaunen ist.
Auch der Universitätsgeschichte widmeten wir uns mit Interesse, waren es doch Marburger Studenten, die im Jahr 1920 als Mitglieder eines Freikorps im thüringischen Mechterstädt 15 Arbeiter ermordeten. An die Gewalttat erinnert heute eine Gedenktafel an der Alten Universität.
Den Bogen zu unserer eigenen Geschichte schlugen wir schließlich an der Kugelkirche in der Ritterstraße: Dieses im 15. Jahrhundert errichtete Klostergebäude diente jahrhundertelang der Universität als Unterbringungsmöglichkeit und wurde 1894 zum Sitz der ersten Inkarnation der Marburger Archivschule: Hier wurden bis 1904 Archivaspiranten (Referendare) auf Tauglichkeit geprüft, bis die Archivarsausbildung nach Berlin abwanderte – ein Fehler, der nach 1945 korrigiert wurde.
Nach so viel historischem Input stand uns natürlich abschließend der Sinn nach Gemütlichkeit, weshalb wir in ein Café auf dem Rathausplatz einkehrten.
An und in Marburg gibt es also viele wenig bekannte und doch faszinierende historische Facetten zu entdecken – man muss nur genau genug hinschauen.