Das zehnte archivwissenschaftliche Kolloquium der Archivschule Marburg
Das zehnte archivwissenschaftliche Kolloquium der Archivschule Marburg widmete sich aus Anlass des 100. Jahrestages der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden dem Thema des „Jüdischen Archivwesens“. Die Veranstaltung wurde von der Archivschule Marburg in Kooperation mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und dem Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland durchgeführt.
Dr. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, betonte in seinem Grußwort, dass das Gesamtarchiv in gewisser Weise das Schicksal jener jüdischer Menschen und Familien teile, die das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen überlebt haben. „Es wurde ausgeplündert, vertrieben und über die halbe Welt verstreut.“ Der hessische Staatsminister für Wissenschaft und Kunst, Udo Corts, verwies darauf, dass die Geschichte der Juden in Deutschland stets ein komplexes Thema bleiben werde, für das es keine „Normalität“ geben könne. Weitere Grußworte sprachen der Präsident des Bundesarchivs, Prof. Hartmut Weber, und der Marburger Oberbürgermeister Egon Vaupel.
Im Eröffnungsvortrag hob Prof. Stefan Rohrbacher die Bedeutung der Integration der jüdischen Geschichte in die allgemeine Geschichte hervor. Man dürfe die jüdische Geschichte nicht isoliert betrachten, aber auch die eigenständigen Züge und die weitgehend autonome Ausgestaltung jüdischer Binnenwelten nicht aus dem Blick verlieren. Insbesondere die Erforschung dieser Binnenwelten stelle die Historiker angesichts der schwierigen Quellenlage zur jüdischen Geschichte vor besondere Herausforderungen.
In den folgenden Vorträgen wurden die Formen der jüdischen Archivorganisation, das Schicksal der jüdischen Quellen nach dem Krieg, die verschiedenen nationalen Modelle und Erfahrungen sowie spezielle Quellengruppen und Spezialinventare zur jüdischen Geschichte thematisiert. Deutlich wurde hierbei, dass die Entwicklung des jüdischen Archivwesens stets von einer Diskussion um die Modelle der Zentralisierung und Regionalisierung begleitet wurde. Dr. Barbara Welker zeichnete in ihrem Vortrag die Bemühungen des Gesamtarchivs um eine Zentralisierung des jüdischen Archivwesens und die widerstrebenden regionalen Initiativen für die Zeit bis 1938 nach. Obwohl zahlreiche Gemeinden die Abgabe der Unterlagen an das Gesamtarchiv ablehnten, konnten sich lediglich in Ausnahmefällen jüdische Gemeinde- oder Regionalarchive etablieren. Eine Archivierung der Unterlagen durch die staatlichen Archive erfolgte ebenfalls selten. Über eine Ausnahme berichtete Dr. Sielemann vom Hamburger Staatsarchiv. Die jüdischen Gemeinden in Hamburg hatten bereits früh Unterlagen an das Staatsarchiv abgegeben; die Archivalien überdauerten den Krieg unversehrt. Nach dem Krieg setzte eine Auseinandersetzung um den weiteren Verbleib der Archivalien ein. Den Bemühungen des neu konstituierten Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem um eine zentrale Archivierung stand dabei der Wunsch des Hamburger Staatsarchivs und der Hamburger Gemeinden nach einen Verbleib am Ort gegenüber.
Inka Arroyo stellte das Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem vor, das Teile des früheren Gesamtarchivs übernommen hat und es sich zum Ziel setzt, die Archivalien zur jüdischen Geschichte an einem Ort zu sammeln und zugänglich zu machen. Inzwischen weist das Archiv Bestände im Umfang von sechs Kilometern auf und verwahrt Unterlagen aus West-, Mittel- und Osteuropa, aus Amerika, Südafrika, Asien und Israel. Als ein Argument für die Zentralisierung der Bestände wurde die Tatsache benannt, dass im Central Archiv zum Teil Bestände oder Verfilmungen von Archivalien zugänglich sind, die vor Ort nur schwer oder gar nicht zugänglich wären.
Neben den Modellen der Zentralisierung und Regionalisierung stand in den verschiedenen Vorträgen immer wieder das Schicksal der Bestände im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit im Vordergrund. Dr. Heinemann zeichnete den Umgang mit den jüdischen Personenstandsregistern nach, die zusammen mit anderen jüdischen genealogischen Quellen vom Reichssippenamt gesammelt wurden. Die dort 1944 verfilmten Register sind heute dennoch zu einem großen Teil überliefert und stellen gegenwärtig die meistgenutzten Quellen zur Familienforschung dar. Verloren gingen dagegen weite Teile der Akten-Depots des Reichssippenamtes und weiterer NS-Institutionen, die gegen Ende des Krieges von den sowjetischen Truppen entdeckt und in die Sowjetunion verbracht wurden. Nach der Entdeckung des Sonderarchivs setzte, wie Elijahu Tarantul betonte, eine regelrechte Pilgerfahrt nach Moskau ein. Da viele Bestände an andere Einrichtungen weitergegeben wurden, ist über den Verbleib zahlreicher Archivalien nichts bekannt. Nach dem Krieg wurde nicht nur das Central Archives in Jerusalem, sondern auch weitere Archive begründet. Laura Jokusch zeichnete die Beweggründe von Archivgründungen nach, die das Leiden der jüdischen Bevölkerung dokumentieren, aber auch eine Strafverfolgung der Täter ermöglichen wollten. Zu diesem Zweck wurden zahlreiche Aufrufe an die Überlebenden herausgegeben, die ihre eigenen Erfahrungen schriftlich festhalten und erhaltene Unterlagen abgeben sollten. In diesem Kontext entstanden auch zahlreiche Zeugenberichte von Kindern, die den Krieg alleine oder mit Hilfe der nicht-jüdischen Bevölkerung überlebt hatten. Feliks Tych erläuterte den Hintergrund und den besonderen Quellenwert der Interviews, die unmittelbar nach dem Krieg nach festgelegten methodischen Anweisungen mit den Kindern durchgeführt wurden.
Die Diskussion der verschiedenen nationalen Modelle des jüdischen Archivwesens verdeutlichte Probleme, denen sich die Archivare heute stellen müssen. George Weil skizzierte die Entwicklung des jüdischen Archivwesens in Frankreich und verdeutlichte, dass zahlreiche jüdische Archive gegenwärtig nicht den internationalen Standards entsprechen würden. Der Staat habe 1905 das Archivgut aller Kultusverbände zu privatem Archivgut erklärt, die jüdischen Funktionäre seien jedoch kaum an der Archivierung ihres Verwaltungsschriftgutes interessiert. Ein Bewusstsein für die Bedeutung des Archivguts für die Geschichte der Juden in Frankreich sei kaum ausgeprägt. Peter Honigmann hob in seinem Vortrag nochmals hervor, dass die jüdischen Gemeinden heute nicht zur Abgabe ihres Verwaltungsschriftgutes verpflichtet seien. Um die Bereitschaft einer Abgabe zu erhöhen, werden mit den Gemeinden in der Regel Depositalverträge geschlossen, die den Gemeinden weiterhin das Eigentumsrecht an den Beständen einräumen. Das Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland werde dadurch besonders bei den Fragen der Bewertung und der Benutzung vor Schwierigkeiten gestellt. Kassationen seien bei dem bereits übernommenen Schriftgut kaum möglich; zudem behalten sich die Gemeinden vor, jede Einsichtnahme in das Archivgut selbst zu genehmigen.
Den Abschluss der dreitägigen Veranstaltungen boten zwei Vorträge über Spezialinventare zur jüdischen Geschichte. Prof. Friedrich Battenberg und Prof. Albrecht Eckardt stellten die Projekte aus Darmstadt und Oldenburg vor und verdeutlichten den methodischen Wandel, der sich inzwischen bei der Erstellungen von Inventaren vollzogen hat.
Die 22 Vorträge der Referenten aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Polen, der Schweiz und den USA führten den rund 120 Teilnehmenden die charakteristischen Besonderheiten des jüdischen Archivwesens, aber auch die gegenwärtigen Probleme und den vorhandenen Handlungsbedarf anschaulich vor Augen. Die Vorträge werden in einem Sammelband veröffentlicht.